In meinen fast 64 Jahren auf
dieser Erde habe ich eines immer wieder festgestellt: Wir können das Leid, die
Schmerzen und die Einschränkungen anderer oft erst dann wirklich
nachvollziehen, wenn wir Ähnliches selbst erlebt haben. Es ist, als ob das
Leben uns durch eigene Erfahrungen die Augen öffnet – für die Nachbarin, die
mit zittrigen Händen ihren Einkauf trägt, für den alten Mann, der sich mühsam
die Straße entlangbewegt, oder für die junge Frau, die nach einer Trennung mit
leerem Blick vorübergeht. Jeder von uns trägt früher oder später sein Päckchen,
und oft ist es vielschichtiger, als wir auf den ersten Blick erahnen.
Die Vielschichtigkeit des
Leids
Manche Menschen kämpfen mit
körperlichen Gebrechen – sei es die Oma, deren Gelenke bei jedem Schritt schmerzen,
oder der Freund, der nach einer schweren Krankheit nicht mehr derselbe ist.
Andere tragen unsichtbare Wunden: den Verlust eines geliebten Menschen, eine
Scheidung, den Verlust des Arbeitsplatzes oder die quälende Einsamkeit, die
sich in stillen Momenten einschleicht. Ich erinnere mich an eine Frau, die mir
einst erzählte, wie sie nach dem Tod ihres Mannes nicht nur ihn, sondern auch
ihren Lebensmut verlor. Oder an einen Mann, der nach Jahren der Arbeit
plötzlich ohne Job dastand und sich fragte, wer er ohne seine Rolle noch sei.
Diese Geschichten sind keine Einzelfälle – sie sind Teil des menschlichen
Daseins.
Ich kenne einen Mann seit
etwa 40 Jahren, der nun über 80 Jahre alt ist. Er ruft mich an, weil er einsam
ist. Früher habe ich versucht, ihn so schnell wie möglich loszuwerden – ein
kurzes Gespräch, ein paar höfliche Worte, dann war ich weg. Doch seit einiger
Zeit, wenn er anruft, nehme ich mir ausreichend Zeit für das Telefonat mit ihm.
Er erzählt mir aus seinem Leben, seinen Sorgen, seinen Nöten, und ich höre
geduldig zu. Ich frage ihn nach diesem und jenem, muntere ihn auf, und nach
einer Stunde oder etwas mehr klingt er wesentlich positiver, manchmal fast
beschwingt. Und ich mache dies in seinem Fall gerne, da es von Herz zu Herz
ist. Ich kann ihm hiermit wesentlich helfen, dass es ihm nach unserem Gespräch
besser geht. Er wird sich vermutlich gerne an unser Telefonat erinnern und
davon zehren. Es ist ein kleines Geschenk, das ich ihm mache – und zugleich
eines, das mich selbst erfüllt.
Was wir von Kindern lernen
können: Mitgefühl ohne Masken
Vielleicht macht es viel
Sinn, kleine Kinder zu beobachten, die noch weniger Masken tragen und sich
vollkommen natürlich mit viel Mitgefühl aus ihrem Herzen anderen helfen. Kinder
haben eine unverfälschte, intuitive Art, auf die Welt zu reagieren. Sie haben
noch nicht gelernt, ihre Gefühle zu verbergen oder sich hinter
gesellschaftlichen Erwartungen zu verstecken. Wenn ein Kind sieht, dass ein
anderes weint, ist sein erster Impuls oft, zu trösten – sei es durch eine
Umarmung, ein geteiltes Spielzeug oder ein einfaches „Nicht traurig sein“.
Diese Reinheit im Ausdruck von Mitgefühl ist etwas, das wir Erwachsenen oft im
Laufe der Zeit verlieren.
Ich erinnere mich an eine
Szene, die ich vor einigen Jahren auf einem Spielplatz beobachtete. Ein kleines
Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, fiel hin und begann zu weinen. Ein Junge,
der in der Nähe spielte, lief sofort zu ihr, kniete sich neben sie und legte
seine kleine Hand auf ihren Arm. „Ist okay“, sagte er mit seiner kindlichen
Stimme, „ich helfe dir.“ Er half ihr auf, wischte mit seinem Ärmel die Tränen
von ihrem Gesicht und brachte sie zum Lächeln, indem er ihr seinen Ball
schenkte. Es war ein Moment purer, selbstloser Liebe – ohne Berechnung, ohne
Erwartung einer Gegenleistung. Kinder handeln aus einem inneren Bedürfnis
heraus, das Leid eines anderen zu lindern, weil sie instinktiv spüren, dass wir
alle miteinander verbunden sind.
Diese Natürlichkeit im
Mitgefühl ist etwas, das wir Erwachsenen wiederentdecken können, wenn wir uns
erlauben, unsere Masken abzulegen. Oft sind wir so sehr mit unseren eigenen
Sorgen beschäftigt oder haben gelernt, unsere Emotionen zu kontrollieren, dass
wir das Leid anderer übersehen oder nicht mehr aus dem Herzen darauf reagieren.
Doch wenn wir uns von Kindern inspirieren lassen, können wir lernen, wieder
spontaner, authentischer und mitfühlender zu sein. Ein Kind fragt nicht nach
dem „Warum“ des Leids – es handelt einfach. Vielleicht ist das eine Lektion,
die wir uns zu Herzen nehmen sollten: Mitgefühl braucht keine Analyse, sondern
ein offenes Herz.
Gott sei Dank müssen wir nicht jedes Leid dieser Welt selbst erfahren, um Mitgefühl zu entwickeln. Doch die Begegnung mit dem eigenen Schmerz scheint eine Tür zu öffnen, durch die wir die Welt mit anderen Augen sehen. In meinem eBook „Der Pfad der Heilung von Körper, Geist und Seele“ (abrufbar unter: https://www.xinxii.com/religion-spiritualit%C3%A4t-2/spirituelles-754/pfad-der-heilung-von-k%C3%B6rper-geist-seele-529892) gehe ich tiefer auf diesen Gedanken ein: Heilung beginnt oft dort, wo Verständnis und Mitgefühl Wurzeln schlagen – sowohl für uns selbst als auch für andere.
Philosophische Perspektive:
Marc Aurel und die Kunst des Mitfühlens
Der römische Kaiser und
Philosoph Marc Aurel schrieb einst: „Du hast die Macht über deinen Geist –
nicht über äußere Ereignisse. Erkenne dies, und du wirst Stärke finden.“ Doch
er betonte auch die Verbundenheit aller Menschen: „Was einem einzelnen Menschen
widerfährt, betrifft uns alle.“ Für Marc Aurel war Mitgefühl keine Schwäche,
sondern eine Tugend, die aus der Einsicht erwächst, dass wir alle Teil eines
größeren Ganzen sind. Wenn wir die Schmerzen unserer Mitmenschen sehen – sei es
die Gebrechlichkeit eines alten Menschen oder die Verzweiflung eines Kranken –,
erinnert uns dies daran, dass auch wir verletzlich sind. Diese Erkenntnis kann
uns demütig machen und uns dazu bringen, mit mehr Sanftmut durch die Welt zu
gehen.
Psychologische Sicht: C.G.
Jung und die Heilung durch Mitgefühl
Der Psychologe Carl Gustav
Jung sah im Mitgefühl eine transformative Kraft. Er glaubte, dass unsere Seele
nicht isoliert existiert, sondern in einem kollektiven Unbewussten mit anderen
verbunden ist. Wenn wir Mitgefühl zeigen, heilen wir nicht nur den anderen,
sondern auch uns selbst. Jung schrieb: „Die Begegnung zweier Persönlichkeiten
ist wie der Kontakt zweier chemischer Substanzen: Wenn eine Reaktion
stattfindet, werden beide verwandelt.“ Ein einfaches Lächeln, ein offenes Ohr
oder eine helfende Hand können für jemanden, der leidet, einen Wendepunkt
bedeuten. Und für uns selbst wird es zu einem Akt der Menschlichkeit, der
unsere eigene innere Welt bereichert. Krankheiten und Beschwerden mögen nicht
immer körperlich heilbar sein, doch Mitgefühl kann die Last leichter machen –
für den, der leidet, und für den, der es schenkt.
Spirituelle Dimension: Oshos
Blick auf das Leid
Der spirituelle Lehrer Osho
sah das menschliche Leiden als einen Weg zur Erkenntnis. Er sagte: „Leid ist
nicht dein Feind. Es ist ein Lehrer, der dich zu dir selbst zurückführt.“ Aus
spiritueller Sicht ist jedes Päckchen, das wir tragen, eine Einladung, tiefer
in unser eigenes Bewusstsein einzutauchen. Doch Osho betonte auch die Kraft der
Gemeinschaft: „Wenn du einem anderen hilfst, seine Last zu tragen, wirst du
selbst leichter.“ In dieser Sichtweise wird Mitgefühl zu einem Akt der Liebe –
nicht nur für den anderen, sondern für das Leben selbst. Es erinnert uns daran,
dass wir trotz aller Schmerzen und Einschränkungen miteinander verbunden sind,
dass wir nicht allein sind.
Ein Aufruf an uns alle
Ich möchte mit diesen Zeilen dazu aufrufen, genauer hinzusehen, zuzuhören und die Hand zu reichen, wo sie gebraucht wird. Vielleicht ist es die alte Dame im Supermarkt, die kaum ihre Tasche tragen kann, oder der Fremde, der mit gesenktem Kopf an uns vorbeigeht. Wir wissen nicht immer, welches Päckchen sie tragen, aber wir können ihnen mit einem Moment der Wärme begegnen. Denn am Ende sind es diese kleinen Gesten, die die Welt ein Stück heller machen – für sie und für uns. Vielleicht macht es viel Sinn kleine Kinder zu beobachten, die noch weniger Masken haben und sich vollkommen natürlich mit viel Mitgefühl
© 2025 - Ernst Koch - www.spirituallifecoach.de - Arkanum Solution Publishing Ltd. - Erste Veröffentlichung am 5. April 2025 auf https://reiki-spiritualhealer-ernstkoch.blogspot.com/2025/04/ein-pladoyer-fur-mitgefuhl-die.html
#Mitgefühl #Verständnis #Menschlichkeit #Heilung #Leid #Philosophie #Psychologie #Spiritualität